30.10.2019
Erntedankpredigt in Schulpforta gedenkt des Anschlags in Halle - Ein Appell für Dankbarkeit und Liebe

Der Anschlag in Halle hat uns alle bewegt. Auch die Schülerinnen und Schüler in Schulpforta haben ihre Ängste und Sorgen, Hoffnungen und Wünsche an der Gebetswand in ihrer Kirche angebracht. Milena Engel aus der 12. Klasse des Musikzweiges hat in ihrer Predigt zum Erntedankgottesdienst in Schulpforta all diese Gedanken beeindruckend zum Ausdruck gebracht.

„Es ist Erntedank. Wir wollen dankbar sein, für alles, was wir durch die Ernte geschenkt bekommen haben. Wir haben jeden Tag genug oder zu viel zu essen und müssen uns nicht darum sorgen. Dafür danken wir.

Aber wie sehr wir danken müssten, wissen viele nicht mehr, weil der Wert einer Ähre oder eines einzelnen Brotes dadurch gesunken ist, dass wir alles im Überfluss haben. Es gibt nur wenige Menschen in Deutschland, die zu wenig Geld haben, um sich Lebensmittel kaufen zu können. Wir leben auf der Sonnenseite der Welt und die Probleme, die wir hier als Probleme bezeichnen, sind bestimmt auch wichtig, aber nichts im Vergleich mit Armut.

Wenn man an Armut denkt, denkt man meist nur an materielle Armut: kein Geld für Essen, Kleider oder ein Haus. Es gibt aber auch politische und kulturelle Armut, die mindestens genau so schlimm ist wie Besitzlosigkeit. Keine Rechte, keine Möglichkeiten, keine Abwechslungen, die helfen könnten, besser mit schlimmen Situationen zurechtzukommen. Wir können uns nicht vorstellen, wie es sein muss, einer Sache so vollkommen ausgeliefert zu sein. Verzweiflung, Angst, Hoffnungslosigkeit. Was macht Armut aus den Menschen? Sie verletzt sie.

„Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut.“

Wir sind alle eins. Es sollte selbstverständlich sein, dass wir einander helfen und es ist falsch, diese Hilfe zu verweigern, sich den andern zu entziehen. Es klingt so leicht: Brot brechen, Menschen ein Dach oder Kleidung geben. Jeder von uns würde Essen teilen und auch schnell welches beschaffen können. Kleidung wird schon schwieriger, aber ein Dach? Würden wir wirklich einen Fremden in unser Haus lassen?

Wir wissen, dass viele Menschen Hilfe brauchen und wir wissen auch, dass wir den Menschen, die irgendwo anders auf der Welt leben, nicht so leicht helfen können. Aber warum helfen wir dann nicht wenigstens denen, die wir leicht erreichen können. Andere wahrnehmen, mit ihnen reden und ihnen zeigen, dass sie nicht vergessen werden. Das ist ein Anfang, der vielen schon sehr hilft und der nicht lang geplant oder teuer bezahlt werden muss.

Was dann passiert ist leicht. Wir haben einem Menschen ein bisschen geholfen. Und der Dank ist klar. Jesaja sagt, dass Gott „deinen Zug beschließen“ will und dir antworten wird, wenn du ihn rufst. Dein Licht wird leuchten und deine Gerechtigkeit vor dir hergehen. Das heißt nicht, dass Glanz und Ruhm die Belohnung wären, sondern dass die Seele aufleuchtet und glücklich und frei sein kann. Deswegen ist es nicht so, dass man nur hilft, um Anerkennung zu bekommen, sondern nur um der Hilfe willen. Und wenn man das tut, wird man glücklich und frei werden und Gott wird bei einem sein, weil man sich jetzt nicht mehr von ihm und den anderen Menschen durch unterlassene Hilfe abwendet, sondern weil man sich ihnen allen hingibt. Hilfe ist nicht gleich Hilfe. Sie wird zu Liebe, wenn man nicht nur seine Hände, sondern auch sein Herz öffnet. Und das ist eigentlich viel wichtiger. Wenn man Liebe gibt, dann kommt sie auch wieder zu einem zurück und man ist immer voll von ihr.

Aber man ist auch weiterhin in der Pflicht, Neues mit ihr aufzubauen und sie zu nutzen, um Dinge zu reparieren und andere zu schützen. Doch während wir uns bemühen, jeden Tag anderen Menschen mit Liebe zu begegnen, hören wir die Nachricht, dass ein Mann so viel grundlosen Hass in sich trägt, dass er einen Anschlag auf andere verübt. Wieso? Warum kann jemand eine unschuldige Frau einfach so auf der Straße erschießen? Und wie kann es sein, dass solche schlimmen Momente live im Internet von zu vielen als Spiel oder Challenge mitverfolgt werden? Ein Spiel, in dem man darum kämpft, möglichst viele Menschen zu töten. So etwas Schlimmes kann man nicht verzeihen!

Aber was ist, wenn dieser Mann doch irgendwann einmal versteht, was er getan hat und nackt vor sich und seiner Vergangenheit steht? Was geschehen ist, kann und darf man nicht vergessen. Aber er wird schon genug bestraft dadurch, dass er selbst aushalten muss, was er getan hat. Damit meine ich nicht die Gefängnisstrafe, die er bekommen wird. Die bezieht sich auf seine Tat; mir geht es aber um ihn als Menschen. Wenn er dann Hilfe braucht, sollte man ihm helfen, wieder neuen Anschluss zu finden und mit dieser Last weiterzuleben, auch wenn das sehr schwer ist. Man muss helfen, verzeihen, darf aber nicht vergessen und muss dafür kämpfen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.

Ich habe einen Artikel über einen Mann gelesen, dessen Familie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ermordet wurde. Der Krieg war vorbei, viele Menschen hatten Schlimmes erlebt und ein paar Polen, die deportiert worden waren und befreit wurden, hatten Hunger und waren völlig verzweifelt. Sie brachen in das Haus der Familie ein und nahmen, was sie wollten. Dann bekamen sie Angst, führten die Familie in den Keller und erschossen alle. Der Mann wurde „nur“ schwer verletzt, stellte sich tot und überlebte. In dem Artikel erzählt er, wie er damals die Frage nach dem Gott gestellt hat, der so etwas zulässt und er sagt: „Aber Gott schenkte mir als Antwort auf meine vielen Fragen die Liebe“. Jahre später erfuhr er, dass einer der Polen, die an den Morden beteiligt waren nur aus dem Gefängnis entlassen werden konnte, wenn er jemanden fände, der ihn aufnehmen würde. Deswegen ging der Mann zu ihm ins Gefängnis, verzieh ihm und sagte „Mein Haus steht dir offen“.  Der Artikel schließt mit einem Zitat des Mannes: „Man muss endlich aufhören mit dem Hassen.“ Und wenn er das geschafft hat, dann erst recht doch wir. Mit Liebe bringt man alle Feinde zum Verstummen. Das ist das Eigentliche, wofür wir danken müssen: Wir haben nicht nur materielle Gaben geschenkt bekommen, sondern unsere größte Gabe ist die Liebe, die reichlicher ist als alles Brot und aus der wir schöpfen können.“